Reifes Bier

Clemens Kainradl, Biersommelier und Inhaber von Bierfracht.

Wie gute Weine lagern Vintage-Biere teils viele Jahre, um nach der Abfüllung noch weiter zu reifen. Zwar wird nicht jedes Bier, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum aus dem letzten Jahrtausend stammt, zur Spezialität – bei einigen lohnt sich das lange Warten aber.

»Die starken Biere aus Belgien eignen sich besonders gut für eine lange Lagerung. Und auch Bockbiere und Barley Wines können zu spannenden Vintage-Bieren werden«

Clemens Kainradl, Inhaber Bierfracht

Westmalle Dubbel aus 2004, Chimay Bleue aus 1996 und Lindemans Gueuze aus 1994: Die Auswahl im kleinen Antwerpener Bierlokal Kulminator ist groß – und alt. Hat man sich für eines der Einzelstücke, die in einem dicken Ordner aufgelistet sind, entschieden, wird die Flasche aus dem Keller geholt und samt jahrzehntealtem Staub serviert. Kräftig, aromatisch und überraschend frisch schmeckt das dunkle Trappistenbier, das sein Mindesthaltbarkeitsdatum um 20 Jahre überschritten hat.
»Die starken Biere aus Belgien eignen sich besonders gut für eine lange Lagerung. Und auch Bockbiere und Barley Wines können zu spannenden Vintage-Bieren werden«, sagt Clemens Kainradl, Inhaber des Biergroßhändlers Bierfracht in Eisenstadt. Als »Bier, das eine lange Lagerung nicht nur übersteht, sondern auch davon profitiert«, definiert der Biersommelier den Begriff Vintage-Bier. Besonders bei Bieren mit hohem Alkoholgehalt sei das der Fall, sagt Kainradl und schwärmt von Dörrobst-Aromen und Sherry-Noten. Auch edle fassgereifte Sauerbiere vertragen Reifung oft sehr gut und profitieren davon: »Ein Oude Geuze ist immer eine längere Betrachtung wert. Und das L’Abbaye de Saint Bon-Chien der Schweizer Brauerei BFM, ein elfprozentiges Sour Ale, gewinnt sogar nach bis zu 15 Jahren noch.«
Doch nicht jedes Bier wird durch das Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums zum Sammlerstück. Biere mit raffiniertem Hopfencharakter aufzuheben sei sinnlos, so Kainradl. »Ein bitteres IPA mit sechs oder sieben Volumsprozent Alkohol kann vielleicht noch interessante Aromen entwickeln. Bei einem Pale Ale oder Session IPA mit vier oder fünf Volumsprozent liegt die Wahrscheinlichkeit, dass es besser wird, aber bei null.«

»Zur Überlagerung geeignet«

Starkbier Samichlaus Classic
–Starkbier Samichlaus Classic– © Brauerei Schloss Eggenberg

Mit 14 Volumsprozent ist das Samichlaus der Brauerei Schloss Eggenberg in Oberösterreich ein idealer Kandidat für das perfekte Vintage-Bier. Jedes Jahr am Nikolaustag wird es gebraut und reift dann noch für zehn Monate nach, bevor es in Flaschen gefüllt wird. Nach der Abfüllung ist es noch mindestens fünf Jahre haltbar – zumindest laut Etikett. »Starkbierfans wissen, dass man Bockbiere lagern kann und soll. Und gerade beim Samichlaus sind wir der Meinung, dass es sich nach einigen Jahren noch einmal weiterentwickelt«, sagt Brauereichef Hubert Stöhr. Nach fünf Jahren sei das Bier auf dem Höhepunkt: »Cremig und rund, aber trotzdem noch sehr nahe am Ursprungsgeschmack.«
Die Privatbrauerei Zwettl in Niederösterreich druckt den Hinweis »Zur Überlagerung geeignet« gleich auf die Etiketten fast aller Biere, die einen Alkoholgehalt von über sieben Volumsprozent haben. »Diese Biere gewinnen nach längerer Lagerung unheimlich an angenehmen, runden, ausgeglichenen Aromakomponenten«, beschreibt Heinz Wasner, Braumeister bei Zwettler Bier, die »ausgewogene Harmonie«. Ein Hinweis auf dem Etikett, dass sich ein Bier gut für längere Lagerung eignet, sei »eine Ansage, die Kunden auch bemerken«, sagt Clemens Kainradl. Zwar bedeute der Begriff Mindesthaltbarkeitsdatum ohnehin, dass man ein Bier auch länger aufheben könne, nur: »Das Bewusstsein dafür fehlt oft.«

Überraschung aus dem Keller

–Kurt Tojner von Rodauner mit dem Wiener Lager »Strizzi«.– ©Rodauner Biermanufaktur

Dass der Wiener Brauer Kurt Tojner mittlerweile an die hundert Flaschen seiner Rodauner-Biere lagert, um sie Monate und Jahre später zu verkosten, ist nicht nur dem erhofften Geschmackserlebnis geschuldet – es hat auch einen ganz praktischen Grund: »Ich bin immer auf der Suche nach dem idealen Mindesthaltbarkeitsdatum«, erklärt Tojner. »Bier verändert sich ja, und das eine oder andere schmeckt nach einem Jahr vielleicht nicht mehr so fein wie gleich nach der Abfüllung oder in den ersten Monaten danach.«
Zu Beginn der 2016 gegründeten Rodauner Biermanufaktur habe er bei allen Bieren ein Mindesthaltbarkeitsdatum von sechs Monaten angegeben. Beim Strizzi, einem Wiener Lager, verlängerte Tojner dieses aber bald auf neun Monate, denn: »Ich habe gemerkt, dass es – kühl gelagert – auch nach zwölf Monaten noch fast unverändert schmeckt.« Es komme immer auf den Bierstil an: Viele belgische Biere, Bock und Doppelbock seien sehr gut im Alter. Und einem Wiener Lager oder einem kräftigen, malzigen Bier schmecke man eine längere Lagerung nicht so schnell an wie einem schlanken, trockenen Pils. Überraschungen seien aber immer möglich: »Ein Nachbar hat einmal alte Bierflaschen in einem Keller gefunden, darunter ein 15 Jahre altes Jubiläumsbier von Fohrenburger. Er wollte es schon wegwerfen, hat mich davor aber zum Glück angerufen. Das Bier war sehr spannend, es hatte fast schon Sherry-Noten.«

»Man muss experimentierfreudig sein«

»Manchmal gibt es eine Einzelflasche, die sich sehr gut entwickelt und manchmal eine, mit der man nicht so zufrieden ist. Und auch einzelne Jahrgänge entwickeln sich besser als andere.«

Kurt Tojner, Rodauner Biermanufaktur

Entscheidend sei die richtige Lagerung, sagt Tojner: »Dunkel und bei einer gleichmäßigen, nicht zu hohen Temperatur, bei 15 Grad im Keller zum Beispiel.« So lagert der Brauer auch seine eigene Sammlung alter Biere. In einem dicken Karton finden sich da etwa der Nussknacker von Brew Age, ein Kastanienbier aus Spanien und etliche Bock-, Doppelbock- und belgische Biere – jede Flasche in Papier eingewickelt. Mit Vintage-Bieren sei es wie mit Wein: »Manchmal gibt es eine Einzelflasche, die sich sehr gut entwickelt und manchmal eine, mit der man nicht so zufrieden ist. Und auch einzelne Jahrgänge entwickeln sich besser als andere.«
Sicher wissen, wie ein Bier nach Jahren schmecken werde, könne man nie, meint auch Kainradl: »Es ist ein Naturprodukt.« Man müsse experimentierfreudig sein und dürfe keinen berechenbaren Geschmack erwarten. Und überhaupt sei die Lagertemperatur viel aussagekräftiger als die Lagerzeit: »Ein Bier, das durchgehend bei 30 Grad gelagert wurde, schmeckt schon einen Monat nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum schlechter als eines, das ein halbes Jahr länger im Keller gelegen ist. Und ein Bier, das nur zwei Monate über dem aufgedruckten Mindesthaltbarkeitsdatum ist, aber jeden Tag Sonne erwischt und in der Nacht wieder abkühlt, kann richtig alt schmecken.« Denn stark wechselnde Temperaturen treiben die Reifung weiter voran. Brauereien simulieren auf diese Weise auch Alterung, um zu testen, wie lange ein Bier hält.

»Die Nerds haben Lager angelegt«

»Die Lokale könnten damit ihren Gästen ein neues Thema nahebringen ­­– und schöne Erinnerungen mitgeben.«

Clemens Kainradl
Das Vintage-Bier Lager von Kolarik.
– Del Fabro Kolarik haben ein Lager mit über 1000 Bierspezialitäten angelegt.– ©Martin Mühl

Für ein zufriedenstellendes Vintage-Genusserlebnis sollte man sein Bier eher nicht in die Sonne legen – braucht dafür aber auch nicht unbedingt viele Jahre Geduld. Ob es in Österreich irgendwann Bierlokale wie das Antwerpener Kulminator geben wird? Kurt Tojner kann sich das »eher nur in kleinem Rahmen« vorstellen. Ein Hindernis sei, dass man erst einmal fünf bis zehn Jahre warten müsste, um überhaupt eine Auswahl zu haben. Obwohl: »Die Nerds haben alle irgendwo schon ein kleines Lager angelegt – mehr oder weniger systematisch.«
Das Lager, das Michael Kolarik-Leingartner angelegt hat, fällt eindeutig in die Kategorie »systematisch«: über tausend Flaschen von 30 verschiedenen Biere hat er in den letzten Jahren in einem Raum in Wien gesammelt. »Wenn wir denken, dass ein Bier Potenzial hat, stellen wir bewusst einen Teil weg«, so Kolarik-Leingartner, der beim Getränkegroßhändler Del Fabro Kolarik für Exklusivmarken und Biersortimentsgestaltung verantwortlich ist. So hat er etwa 150 Flaschen der Vintage-Auflage von Thomas Hardy’s Ale, einem Barley Wine der englischen Meantime Brewery, aus dem Jahr 2014 auf dem österreichischen Markt »zusammengekauft«. Und vom Paulaner Salvator, dem Doppelbock der Paulaner Brauerei in München, sammelt der Brauer und Biersommelier seit 2017 von jedem Jahrgang hundert Flaschen.
Dass Vintage-Biere bald auch in der österreichischen Gastronomie wie guter, alter Wein zelebriert werden, kann sich Bierhändler und Sommelier Clemens Kainradl zwar vorstellen, doch: »Ich bin nicht mehr ganz so zuversichtlich wie noch vor fünf oder zehn Jahren. Das Interesse ist nicht so da, wie ich erwartet hätte.« Dass das an den Gästen liegt, glaubt er aber nicht: »Die würden sich darauf einlassen. Man kennt das ja vom Urlaub. Wenn am Nachbartisch eine staubige Flasche serviert wird, dann ist man neugierig, was da gerade passiert, und schaut in der Karte nach, was das für ein Bier sein könnte.« Kainradl sieht nach wie vor sehr großes Potenzial für Vintage-Biere: »Die Lokale könnten damit ihren Gästen ein neues Thema nahebringen – und schöne Erinnerungen mitgeben.«